Nebenwirkungen ohne Packungsbeilage

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Nebenwirkungen ohne Packungsbeilage


Nicht nur beim Impfen gibt es unbeabsichtigte und unerwünschte Nebenwirkungen – es gibt sie auch, wenn man mit einer Kampagne, Aktion oder Initiative den gesellschaftlichen Stachel ausfährt. Und dabei kann es vorkommen, dass eine Nebenwirkung statt die Beabsichtigte zur Hauptwirkung wird.

Wenn das den Rechten passiert, kann das ja durchaus recht sein: Ein Beispiel dafür stammt aus einer tschechischen Stadt, in der vor wenigen Jahren Neonazis ein Roma-Quartier stürmten und eine Strassenschlacht mit der Polizei anzettelten. Sie erreichten zwar damit, dass sie landesweit bekannt wurden, aber die Roma zu vertreiben, gelang ihnen nicht. Der Haupteffekt war, dass das Quartier endlich bekam, wofür es sich jahrelang vergeblich bemüht hatte: Bus, Strassenreinigung und Müllabfuhr. Konträr zur Absicht der Neonazis leben die Roma nun besser. Dieser unbeabsichtigte Nebeneffekt wurde zur Hauptwirkung.

Nebeneffekte vorauszusehen und im Zaum zu halten versuchen, gehört zum politischen Tagesgeschäft, denn wer gesellschaftlich interveniert, muss stets damit rechnen, Freund und Feind zu Reaktionen zu provozieren. Wenn zum Beispiel die SVP eine ihrer Nein-Kampagnen lanciert, mobilisiert sie gleichzeitig und unvermeidlich die Linke für das Ja. Solche aus Sicht des Akteurs unerwünschte, aber im Prinzip vorhersehbare Nebenwirkung ins Kalkül einzubeziehen, ist politisches Einmaleins. 

Darum scheiterten die Pestizid-Initiativen

Das gelingt freilich nicht immer. Wie beispielsweise bei den Pestizid-Initiativen, die im Juni 2021 zur Abstimmung kamen: Wegen den radikalen Forderungen fühlten sich (zu) viele Bauern in ihrer Existenz bedroht und dermassen provoziert, dass die Agrarlobby sie leicht mobilisieren konnte und so die Abstimmung gewann. Bei Provokationen, die an das Eingemachte des Gegners gehen, kann also der Schuss leicht nach hinten losgehen.

Nehmen solche unerwünschten Nebeneffekte überhand, spricht der Volksmund von «kontraproduktiv», weil unter dem Strich im Prinzip das Konträre von dem erreicht wurde, was beabsichtigt war. Gewiss, immerhin ist das Problem thematisiert worden. Doch das kann man immer sagen. Ich meine, im Fall der Pestizid-Initiative war es eine fahrlässig vertane Chance. Das Anliegen ist populär und wäre durchaus mehrheitsfähig; doch Forderungen können leicht dogmatisch werden, wenn sie nur im Treibhaus der eigenen Blase wachsen.

Effekte, die das Gegenteil dessen sind, was Absicht war, sind als paradoxe Wirkungen bekannt. Also wenn z.B. ein Schlafmittel zu Schlaflosigkeit führt oder wenn die Aufforderung «sei spontan» ebendas grad verhindert. Das kann auch verdeckter geschehen, beispielsweise wirkt das «Zuviel-des-Guten» oft paradox, etwa wenn ein Engagement zu missionarisch wird. Engagement ist mega, doch wer andere zu sehr drängt, bewirkt Trotz; und Trotz ist paradox in seiner Wirkung: Man sät gut gemeinte Verhaltens-Vorschläge, erntet aber Widerstand. [1].

Das Kitkat-Fiasko

In der Politik treten paradoxe und andere ungewollte Wirkungen als Folge von Interventionen häufig auf. Bezeichnend dafür ist ein Interview von 1979 mit dem damaligen Schweizer «Atompapst» Michael Kohn. Er sagte, so ist es mir in Erinnerung geblieben, dass er der Anti-Atom-Bewegung dankbar sei, denn sie lege ihre Finger auf die wunden Punkte, und das sei wichtig für die Atombefürworter, denn sie könnten daraus Lehren ziehen. Auch hier zeigte sich, dass der Angriff den Gegner nicht schwächte.

Ein weiteres Beispiel dazu: Greenpeace attackierte 2010 mit einer Kampagne gegen Kitkat Nestlé wegen dem Palmöl in diesem Schokoriegel. Die Kampagne erreichte ihr Ziel, der Konzern versprach, nur noch Palmöl aus nachhaltiger Produktion zu verwenden. Der Nebeneffekt war allerdings - wie der Tages-Anzeiger aufgrund einer Recherche ein Jahr später berichtete -, dass der Konzern daraufhin zehn Google-Leute anheuerte, um sich fortan immun gegen Online-Attacken zu machen. In der Folge daraus zeigte sich ein weiterer Nebeneffekt: Hatte sich Nestlé zuvor kaum um das Online-Marketing gekümmert, schloss nun der Konzern zur Spitze auf (als weiterer Nebeneffekt auf der anderen Seite stärkte auch Greenpeace sein Online-Können). Ein Dilemma, wie solche Nebeneffekte zu gewichten - sie sich bewusst zu machen, ist dennoch notwendig.

Ein letztes Beispiel: Die evangelische Partei EDU wollte 2011 mit einer kantonalen Initiative ein “Verbot von Sterbetourimus und Suizid-Behilfe” erwirken. Die Zürcher:innen sagten mit 85% Nein dazu; und der Sterbehilfe wurde damit zum gesellschaftlichen Durchbruch verholfen - und also für den Akteur voll kontraproduktiv.

Negativ-Beispiele jeden Kalibers

Unvorhergesehene Nebenwirkungen haben oft einen paradoxen Anteil, und weil das Paradoxe nicht dem üblichen Denken entspricht, bleibt es oft unbedacht. Solche paradoxe Wirkungen sind zudem oft heftig und haben deshalb Veränderungspotenzial. Deswegen werden sie auch absichtlich eingesetzt wie etwa als paradoxe Interventionen in der Psychotherapie; also wenn zum Beispiel der Therapeut von einer Panikpatientin fordert, sie solle möglichst versuchen, in Panik zu geraten und sie damit davon befreit [2]: Durch das Antizipieren oder Erleben des Extremen soll das innere Pendel in die andere Richtung zum Ausschlag gebracht werden. Etwa wie wenn man einem Kind, das dauernd Schokolade essen will, einmal so viel Schokolade gäbe, dass ihm übel würde und es danach nie mehr Schokolade wollte (nur zur Illustration; solches Tun ist natürlich problematisch).

Auch als politische Provokation wird die paradoxe Intervention genutzt: Der Gegner soll mit einem überraschenden Angriff zu einer Überreaktion verleitet werden, mit der er sich selber schadet und die man zur Mobilisierung der eigenen Fans nutzen kann. Hinter «9/11» soll gemäss einer Analyse im Tages-Anzeiger/Bund (siehe BUND, 9.9.21) genau das gesteckt haben. Es sei davon auszugehen, dass Bin Laden mit dem Angriff auf die Twin Towers die Bush-Regierung zu einer heftigen Reaktion provozieren wollte: Was Bush mit dem «War on terrorism» dann ja tat - und dabei selber terroristische Methoden anwendete. Damit aber erreichte Bush das Gegenteil dessen, was er beabsichtigte: Er förderte den islamistischen Terror und Fundamentalismus, genau das, was Bin Ladens Absicht war. 

Fazit: Einerseits mögliche Nebenwirkungen im Vorfeld besser abklopfen. Diese treten bei Interventionen in menschliche Systeme stets und zahlreich auf, weil diese Systeme komplex sind; die beabsichtigte Wirkung ist nie die alleinige. Und beim Abklopfen unter anderem ähnlich einer Umweltverträglichkeits- eine Art «Stakeholder-Verträglichkeitsprüfung» durchführen. Andererseits stellt sich die Frage, ob man in der Kampagnenarbeit nicht vermehrt auf erwünschte Nebenwirkungen und paradoxe Interventionen setzen könnte; für die gesellschaftliche Therapie sozusagen. Oder zumindest im Gedankenexperiment ausloten, was für «Undercover»-Aktionen möglich wären. Ein unausgegorenes Beispiel wäre etwa, den Gegner öffentlich heftig zu loben, wenn er mal ein bisschen etwas Gutes tut. Allerdings gelänge die Irritation nur, wenn dabei das Schlechte unerwähnt bliebe.

Provokative, paradoxe oder satirische Interventionen im politischen Kampf einzusetzen, ist natürlich riskant. Aber überlegenswert. Zumal konventionelle wie Proteste, Plakate oder Petitionen etwas von ihrer Schlagkraft verloren haben könnten.
 

PS: Engagieren sich Freiwillige mit und für eine (politische) NGO, wünschen sie sich als Haupteffekt gesellschaftlichen Wandel. Möglichst subito. Da das leider selten eintritt, ist es für die Langfristigkeit der Partizipation entscheidend, die positiven Nebenwirkungen des Engagements zu fördern, wie beispielsweise dabei etwas Nützliches zu lernen, gute Leute kennenzulernen, mit Gleichgesinnten etwas unternehmen etc.. Sieht dagegen eine NGO Freiwillige primär als Instrument, führt das beidseitig zu Frust - und ist also kontraproduktiv (mehr dazu hier).

[1] siehe z.B. «Learning from behavioural changes that fail», Magda Osman, Trends in Cognitive Science 24/12, 2020, 969 ff (zitiert nach psychologie heute, 11/2021)

[2] aus Thomas Fritzsche, «Die Frau, deren Arm sich hängen liess» - Geschichten aus der hypno-systemischen Psychotherapie, Verlag Herder, 2021

Kuno Roth «Klima Vista»

Unser Autor

Arbeitet als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz. 

Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, arbeitet nun als Humanökologe, Lernspezialist sowie auch Schriftsteller. Neben Kolumnen schreibt er vor allem Gedichte und Aphorismen. Seine letzten Veröffentlichungen sind «Im Rosten viel Neues» (Gedichte, 2016) sowie «Aussicht von der Einsicht» (Aphorismen, 2018). Sein neuestes Buch ‹KL!MA VISTA – Die Schneefallgrenze steigt› Gedichte und Aphorismen ist am 23.10.2020 bei Pro Lyrica erschienen.

Kuno Roth