Virus

Korona, Komplexität und Kampagnen

Der Bundesrat hat am 13. März einen Lockdown verfügt. Er versuchte und versucht mit einem Mix aus Verboten, Geboten und dringenden Empfehlungen einerseits, sowie andererseits mit der Kommunikation schützender Verhaltensweisen das System Schweiz zu steuern.
Allerdings kann selbst ein Bundesrat mit viel Macht ein System nicht wirklich steuern, sondern nur beeinflussen, sich in die gewünschte Richtung zu entwickeln. Je mehr Vorkenntnisse, Expertise und Weisheit, desto eher gelingt dies. Der Eingriff ins System Schweiz, mit dem Ziel, die Zahl der Ansteckungen zu reduzieren und eine Überlastung des Gesundheitssystem zu verhindern, war enorm und nichts war anfänglich wirklich voraussag- und kontrollierbar. Das Navigieren durch die Krise ist eine komplexe Angelegenheit mit viel Chaos, Rückkopplungseffekten und paradoxen Reaktionen.

Auch Campaigning bedeutet in ein System einzugreifen zu versuchen, damit eine ungute Sache besser werde. Deshalb hält die Coronakrise ein paar Lehrstücke fürs «systemisches Campaigning» bereit. Um sie aufzuspüren, kann man den Bundesrat als Kampagnenteam sowie die Bundesämter und die Task Forces als Kooperationspartner betrachten.  Der Lockdown wäre der Start der Kampagne, die Corona-Navigation die Kampagne. Für das Kampagnenteam galt es dabei insbesondere Wirkungen von Massnahmen und Geschehnissen zu beobachten, Indikatoren festzulegen, verschiedene Sichtweisen und Interessen zu berücksichtigen, ExpertInnen mit unterschiedlichen Einschätzungen anzuhören und schliesslich zu handeln. Im Wissen, dass man insbesondere in Krisen nicht weiss, was das «richtige Handeln» ist, war ein reflektiertes «Trial and Error mit Dauerbeobachtung und Anpassungen» als Vorgehen angesagt. «Was richtig war» weiss man erst danach, wenn überhaupt. Wie bei einer Kampagne.

Die folgenden Elemente - nur ein Anfang mit ein paar Gedanken - könnten lehrreich sein:

  • Handlungsfähigkeit: Der Nationalstaat ist handlungsfähig, und den Multis und Handelsabkommen gar nicht so ohnmächtig ausgeliefert wie oft gesagt. Der Sozialstaat dominierte (für einmal wieder) den Wettbewerbsstaat. Kommt es drauf an, ist Kooperation möglich.
  • Lernen 1: Während der „Kampagne“ kontinuierlich zu lernen macht es möglich, differenzierter zu navigieren und gezielter zu intervenieren (z.B. durch lokale statt nationale Massnahmen). Dabei beruhte das, was anfänglich zur Eindämmung der Verbreitung von Covid-19 getan wurde, auf Lehren aus ähnlichen Fällen wie Ebola und Sars. Allerdings war man sich nicht immer einig, was diese Lehren sind bzw. hat sie nicht berücksichtigt. Wie auch immer, Erfahrung ist nach wie vor die beste Vorbereitung. Vor allem dann, wenn man sich einig ist, was denn genau die Erfahrung war.
  • Lernen 2: Wenn etwas überwältigend komplex scheint, ist es ein Weg, nach Lichtern im Dunkeln zu suchen. Das heisst, sich gar nicht zu sehr ums Problem kümmern, sondern nach erfolgreichen Modellen Ausschau halten und von ihnen lernen. Während die Corona-Erfolge von Taiwan und Neuseeland wohl wesentlich auf deren Inseldasein beruhen, lassen die Erfolge von Ländern wie Uruguay und Paraguay aufhorchen und könnten gute Lehrstücke sein. Erfolgsfaktoren sind u.a. rasches Handeln, gutes Gesundheitssystem, gegenseitiges Vertrauen zwischen Regierung und Bevölkerung etc. (mehr zu Uruguay). Und der «Find a bright spot and clone it»-Blog der Heath Brothers ist ein guter Einstieg für mehr Lösungsorientierung und weniger Problemfixierung.
  • Indikatoren als Navigationshilfen: Die Fall- und Todeszahlen waren anfänglich die einzigen Indikatoren, es ging einzig darum, zu verhindern, dass das Gesundheitssystem überlastet wird. Simple Zahlen sind hilfreich zur Grobsteuerung in der Krise, in der es zu handeln gilt. Sich nur auf zwei Quantitäten zu verlassen, ist allerdings problematisch. Zum einen, weil die Erfassung der Fälle unterschiedlich erfolgte, sich wandelte und sich die Anzahl der Tests stieg [Aussagekraft von Indikatoren]. Zahlen gaukeln Genauigkeit vor, sie waren aber ungenau. Zum andern sind nackte Zahlen kalt und lassen Qualitäten kaum erkennen. Zum Beispiel: Tausend Tote bedeuten 100'000 faches Leid bei den Hinterbliebenen, was nackte Todeszahlen verbergen. Es schimmerte nur in Erzählungen durch. Über Menschen, die ohne Abschied von den Angehörigen nehmen zu können starben. Menschen, die in der Isolation fast verzweifelten und über solche, die trotz allem für andere da waren, Besorgungen erledigten oder Essen an Bedürftige verteilten. Beeindruckend, wie viel Unterstützung sich ohne Direktive bildete, Solidarität und Freiwilligenarbeit war präsent.
  • Sich in der Anfangsphase nur auf einen oder zwei Indikatoren zu stützen ist verständlich, wenn auch problematisch, wenn ein umfassendes System mit so wenig Navigationshilfe beeinflusst werden will. Interventionen haben weit mehr Auswirkungen als bloss tiefere Fallzahlen. Wie man diese erfasst und misst, ist ebenfalls ein Thema für sich. Auch Umfragen sind Indikatoren und der Versuch einer «Pulsnahme bei der Bevölkerung». Ausserdem geben sie - im Vorfeld einer Kampagne gemacht - Auskunft, wem man mit einer Intervention auf die Füsse treten könnte, was hilft, ggf. flankierende Massnahmen vorzubereiten.
  • Indirekte Indikatoren für die Störung eines Systems, sind z.B. die Wortmeldungen von Verbänden und Lobbygruppen, die heftigen Reaktionen von Freiheitsempfindlichen oder wenn Verschwörungstheorie-Anhänger plötzlich Morgenluft wittern. Das nennt man auch das Präventionsparadox: Weil es wegen den Schutzmassnahmen weniger schlimm war als befürchtet, ist das für Sensible Anlass, laut zu glauben, die Massnahmen seien unnötig oder zumindest übertrieben gewesen. Sie sind auch eine Art Indikatoren: Wenn man Macht und das Personal hat wie der Bundesrat, bekommt man die Stimmen automatisch zu hören. Ein normales Kampagnenteam muss sich verschiedene Stimmen mit Befragungen aktiv einholen. 
  • Reduktion der Komplexität: Eine Notwendigkeit, gewiss. Nur ein Indikator (z.B. Fallzahlen) oder ein Mass (z.B. BIP) ist allerdings zu verkürzt und leitet in die Irre. Gute Reduktion ist wie Picasso: Man muss das Handwerk beherrschen und das ganze Bild vor Augen haben, um kunstvoll reduzieren und abstrahieren zu können.
  • Flankierende Massnahmen helfen unerwünschte aber wahrscheinlich auftretende Wirkungen zu mildern: Mit «Kampagnenmitteln» wie z.B. der Kurzarbeit konnten viele drohende Härten aufgefangen werden, weil gewisse Auswirkungen aufgrund der Erfahrung mit der Finanzkrise 2008 vorausgesehen wurden; d.h. gewisse Nebeneffekte wurden vorausgesehen und konnten so gemildert werden. 
  • Andere Nebeneffekte wie etwa die Überlastung des Pflegepersonals oder der psychische Stress in Altersheimen, wurden kaum antizipiert, obschon das zum Teil möglich gewesen wäre. 
  • Ausgewählte Zielgruppen und spezifische Ansprache: Besonders sensible Gruppen wie die eben Genannten sind von Anfang an besonders zu beobachten und zu begleiten. Dafür wären Fokusgruppen geeignet, um z.B. Wirkungen von Massnahmen in Altersheimen früh zu erkennen und mit Modell-Altersheimen exemplarisch Lösungen («bright spots») für andere zu entwickeln. Die Frage lautet also: Wie kann das Monitoring vermehrt zur Navigation während der Kampagne verwendet werden statt lediglich für die Evaluation und das Reporting am Schluss.
  • Kommunikation ist hochsensibel: Das Bundesamt für Gesundheit BAG lieferte gute und weniger gute Beispiele gelungener Kommunikation. Misslungen ist sie beispielsweise bei der Maskenfrage, gelungen bei der Abstandsregel. Aufrichtige Kommunikation ist der Schlüssel das heisst ggf. auch mal zugeben, man wisse noch nichts Genaueres und bleibe auf der sicheren Seite, bis neue Erkenntnisse vorliegen. Widersprüchliche Informationen, die den Fehler, Masken nicht rechtzeitig beschafft zu haben, vertuschen sollten, sind Gift. Zudem: Viele verstanden offenbar den Anfang der Lockerungen als Ende der Kampagne. Es ist eine kommunikative Herausforderung die Leute bei der Stange zu halten.

Corona zeigt deutlich, dass Veränderungen eines Systems nicht linear, vorherseh- oder kontrollierbar sind. Das heisst, ökosoziale Probleme sind komplexer als dass sie mit mechanischen Kampagnen-Mitteln in Kampfmanier beseitigt werden könnten. Hinter diesen stecken nicht schlechte Absichten, sondern fehlerhafte Annahmen aufgrund einer linearen Wenn-dann-Analyse. Solche Ursache-Wirkung-Einschätzungen tun so, als ob es keine Rückkopplungseffekte gäbe und der Kontext nebensächlich oder kontrollierbar sei.

Sie funktionieren in eingespielten Routinen und stabilen Umgebungen zwar recht gut, genügen aber für komplexe Gegebenheiten nicht. Das heisst, dass sich Organisationen der Zivilgesellschaft vermehrt einem «beobachtenden-responsiven» Ansatz zuwenden müssten, der der Komplexität gesellschaftlicher Veränderungen besser gerecht wird. Eingriffe ins System verursachen chaotische, komplexe wie auch komplizierte Wirkungen, die ja Zeichen des Eingriffs sind. Passiert nichts, wurde nicht eingegriffen, wie das zuweilen bei Kampagnen der Fall sein kann. Eine praktische Hilfe dafür ist das Cynefin-Modell (siehe Kasten). 

Einstein’s Bonmot, dass man Probleme nicht mit demselben Denken lösen kann, das sie verursacht hat, bedeutet nicht, neues Denken sei ein neues Tool. Innovation kann technisch sein, heutzutage online oder mobil, wichtiger wäre aber öko-soziale Innovation. Denn oft geht es weniger darum, an sich Neues zu erfinden, sondern vielmehr darum, Bestehendes und Wachsendes mit anderen Augen zu sehen und auf andere Wege zu bringen. 

Cynefin Framework

Systemisches Erfassen - das Cynefin-Modell

Als hilfreich für systemisches Betrachten hat sich das Cynefin-Modell erwiesen. Es bildet Wirklichkeit in vier Bereichen ab: Dem einfachen, dem komplizierten, dem komplexen und dem chaotischen Bereich (siehe Grafik). Alle vier treten bei menschlichen [Inter]Aktionen stets auf. Veranschaulicht mit der Metapher eines kranken Menschen: Das Einfache – Fieber, Blutdruck, Puls - kann man selber messen. Das ist in jedem Fall besser als nichts. Zur Messung und Interpretation eines Blutbilds braucht es jedoch Expertenwissen. Das ist der komplizierte, aber ebenfalls kausale Bereich: Wenn zu wenig von X im Blut, dann hat es Wirkung Y. Und das vom Arzt verschriebene Medikament kann unerwünschte Nebenwirkungen haben. Das können zwar auch “Wenn-dann”-Fälle sein, doch jene, die abhängig von der Konstitution sowie vom Seelenzustand der Patientin sind, gehören in den komplexen Bereich - das Huhn-Ei-Feld: Zwar weiss man aus Laboruntersuchungen, was eintreten könnte, was aber im Einzelfall passiert, ist nicht vorhersagbar.

So ist es gemäss dem Cynefin-Modell richtig bzw. ein Muss, in einer Krise – also unter chaotischen Verhältnissen - sofort zu handeln, doch gleichzeitig zu beobachten, was passiert, um die Interventionen anzupassen. 

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Kuno Roth

Unser Autor

Arbeitet als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz. 

Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, arbeitet nun als Humanökologe, Lernspezialist sowie auch Schriftsteller. Neben Kolumnen schreibt er vor allem Gedichte und Aphorismen. Seine letzten Veröffentlichungen sind “Im Rosten viel Neues” (Gedichte, 2016) sowie “Aussicht von der Einsicht” (Aphorismen, 2018). Sein neuestes Buch ‹KL!MA VISTA – Die Schneefallgrenze steigt› Gedichte und Aphorismen erscheint am 23.10.2020 bei Pro Lyrica

Kuno Roth