Strassenmarathon

Gaaanz bequem zugrunde gehen

Unsere Gesellschaft scheint bewegt. Joggen, Fitness-Trainings und Biken boomen. Laufend werden neue sportliche Rekorde aufgestellt: Ein neuer 100-Meter-Weltrekord bei den Männern, die erste Alleinumsegelung der Welt durch eine Frau. Zudem erfreuen sich extreme Ausdauerübungen wie «Iron Man» und Triathlon grosser Popularität. Man wartet förmlich auf Nachrichten wie, dass der erste Mensch rückwärts auf den Mount Everest geklettert sei oder mit auf den Rücken gebundenen Armen den Ärmelkanal durchschwommen habe.

Die Bequemlichkeitswünsche des Homo Konsumensis

Nun könnte man meinen, Extrem- und Spitzensport seien die Spitze des Eisbergs einer grossen gesellschaftlichen Bewegungs-Bewegung, auf die zum Beispiel die vielen Joggenden hinweisen würden. Ein Trugschluss. Zwar gibt es etwas Breite, doch das Phänomen ist unübersehbar: Im Mikrobereich wird höchst eindrucksvoll auf die Spitze getrieben, was die bequemlichkeitsmaximierende Mehrheit der Gesellschaft makromässig ausmerzt: körperliche Bewegung. Interessant ist dabei die Frage nach der Psychologie hinter dem Bedürfnis, bewegungslos vor dem Fernseher zu sitzen und mit Genuss den Bewegungen anderer zuzuschauen.

Als der Mensch noch selber jagte, pflanzte, sammelte, musste er sehr ökonomisch mit seinen Kräften umgehen. Und trieben früher Macht, Überleben und Sex den Menschen an, kann man heute feststellen, dass diese frühgeschichtlichen Triebe beim Homo Konsumensis sekundär geworden sind. Er wird paradoxerweise von der Bequemlichkeit angetrieben: Ob Rolltreppe, Fast-Food, Auto, Fernbedienung, Smartphone-Apps oder Sexkick per Klick, alles wurde zur Reduzierung des Kräfteaufwandes erfunden.

Bewegungsförderung ade?

Jedem Bequemlichkeitsfortschritt folgt ein weiterer auf dem Fuss, als gäbe es das Fernziel «Bewegungslosigkeit». Frühere Massnahmen zur Bewegungsföderung - wie etwa der Vita-Parcours - wurden im rasanten Bewegungsreduktions-Markt an den Rand gedrängt und verkümmern als Randerscheinungen. Denn sie zielten am Grundgefühl des Homo Comodis vorbei, dass Wohlbefinden gleich Bequemlichkeit sei. Und auch die einst aufmüpfige, bewegte Linke ist im Mittel-Stand angekommen. Sie denkt an ihre Altersvorsorge, kümmert sich um Besitzstandswahrung, weiss über vieles Bescheid und gibt sich nur noch verbal und dort wild, wo es den eigenen Lebensstandard nicht gefährdet. Anstrengung hat sich mancherorts aufs Klicken am Schreib- bzw. aufs Empören am Stammtisch reduziert.

Diese Massenunbewegung, wie sie in den USA seit längerem beobachtet werden kann, wird wohl als «Zeromove»-Epoche in die Geschichtsbücher eingehen, so diese von Robotern noch nachgeführt werden sollten. Jedenfalls scheint es, als ob die Menschheit dereinst nicht nur an den erschöpften Ressourcen zugrunde gehen wird, sondern auch an der Erschöpfung aus Bequemlichkeit.

Ob das Schaufeln des Grabes auch bequem sein wird? «Es isch doch so gäbig gsi», wäre jedenfalls eine passende Grabsteininschrift. 



Kuno Roth

Unser Autor

Arbeitet seit drei Jahren als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz. 

Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, arbeitet nun als Humanökologe, Lernspezialist sowie auch Schriftsteller. Neben Kolumnen schreibt er vor allem Gedichte und Aphorismen. Seine letzten Veröffentlichungen sind “Im Rosten viel Neues” (Gedichte, 2016) sowie “Aussicht von der Einsicht” (Aphorismen, 2018). Mehr unter https://prolyrica.ch/b-b/kuno-roth.

Kuno Roth